Kommentar
Jeder Einzelne, der seine Arbeit als sinnlos empfindet, ist auch ein Problem für uns als Gesellschaft. Denn schlechte Arbeit schadet uns allen. Ein Essay
„Bartleby“, sagte ich, indem ich ihn freundlich hinter seinem Wandschirm anrief. Keine Antwort. „Bartleby“, sagte ich in einem noch freundlicheren Tone, „kommen Sie her; ich will nichts von Ihnen verlangen, was Sie lieber nicht tun möchten – ich habe nur den Wunsch, mit Ihnen zu sprechen.“ Darauf kam er lautlos zum Vorschein. „Wollen Sie mir sagen, wo Sie geboren sind?“ – „Ich möchte lieber nicht.“ – „Wollen Sie mir irgend etwas von sich erzählen?“ – „Ich möchte lieber nicht.“ – „Aber was für einen vernünftigen Grund können Sie haben, nicht mit mir zu sprechen? Ich meine es gut mit Ihnen.“
Über die rätselhafte Verweigerung des Aktenkopisten Bartleby gegenüber seinem Chef in Herman Melvilles berühmter Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ zerbrechen sich Kritiker und Interpreten aus der Literaturwissenschaft seit über 150 Jahren den Kopf. Ein progressiver Arbeitspsychologe der Gegenwart täte sich seit einigen Jahren wahrscheinlich leichter: Bartleby leidet für ihn womöglich einfach am Bore-out-Syndrom!
Bore-Out statt Begeisterung
Der Bore-Out ist so etwas wie der kleine Bruder des seit den Siebzigerjahren zuerst in den USA als psychiatrischer Fachbegriff eingeführten Burn-out-Syndroms, des „Ausgebranntseins“, der totalen Erschöpfung durch Stress im Job. Als psychiatrische Diagnose ist der Burn-out sowohl in Forschung und Praxis als auch in der Öffentlichkeit zuletzt immer bedeutsamer geworden, wenngleich er insbesondere gegenüber der Depression, mit der er manche Symptome teilt, von vielen Fachleuten weniger ernst genommen wird. Er gilt als modische Volkskrankheit. In Deutschland wird er dementsprechend offiziell auch nicht als so genannte „Behandlungsdiagnose“ geführt, die im Rahmen der Abrechnung an die Kassenärztliche Vereinigung übermittelt werden muss, sondern nur als „Rahmen- oder Zusatzdiagnose”.
Wirtschaftlicher Schaden: 250 Milliarden Euro
Den Bore-out unterscheiden vom Burn-out nun nicht unbedingt seine Symptome: Niedergeschlagenheit, das Gefühl von Sinnlosigkeit, Depression, Schlaflosigkeit, Tinnitus, Infektionsanfälligkeit, Magenbeschwerden, Kopfschmerzen und Schwindel. Was den Bore-out vom Burn-out unterscheidet, ist der Anlass: Unterforderung, falsche Berufswahl, stupide Pflichtwiederholung oder schlicht Langeweile im Job. Als Erfinder des Begriffs, der vom englischen Wort „to bore someone“ kommt, das so viel heißt wie jemanden langweilen, gelten die beiden Schweizer Unternehmensberater Philippe Rothlin und Peter R. Werder. 2007 veröffentlichten sie ihr Buch „Diagnose Bore-out, warum Unterforderung im Job krank macht“ und rechneten auch noch einen gesamtwirtschaftlichen Schaden des Bore-outs für Deutschland vor: satte 250 Milliarden Euro.
Auch wenn bei Überschlagszahlen dieser Art oft übertrieben wird, haben Ergebnisse nachfolgender Studien Rothlin und Werder im Kern bestätigt. 2011 etwa kam eine Studie der Berliner Charité und der Universität Leipzig, für die 1200 Menschen befragt worden waren, zu dem Schluss, dass Menschen, die sich im Job unterfordert fühlten, häufiger depressive Symptome zeigten. 2012 ergab eine Untersuchung der Deutschen Universität für Weiterbildung, dass sich elf Prozent der Erwerbstätigen unterfordert fühlten. Und in einem Bericht der Bundesregierung hieß es: „Rund 60 Prozent der jungen Arbeitnehmer bis 29 Jahre haben das Gefühl, mehr leisten zu können, als im Job verlangt wird. Umgekehrt geben nur 6,1 Prozent an, dass ihre Tätigkeit zu schwierig sei.“ Es ist schon erstaunlich, wie viel Potenzial hier auf der Strecke zu bleiben scheint.
Ein soziales und solidarisches Versprechen
Dem Horror vor der Langeweile steht anderswo das glatte Gegenteil gegenüber: die Feier der Langeweile als vom Rest der Welt verkannter Urgrund alles Schöpferischen, als kreative Energie. Ganz in dem Sinn, in dem es der amerikanische Schriftsteller und Essayist David Foster Wallace 2011 in seinem unvollendet gebliebenen, in einer öden Steuerbehörde spielenden Roman „Der bleiche König“ schrieb, der drei Jahre nach Wallace’ Selbstmord erschien: „Wenn man gegen Langeweile immun ist, gibt es buchstäblich nichts, was man nicht erreichen kann.”
Erziehungswissenschaftler und Hirnforscher wiederum weisen beharrlich darauf hin, wie wichtig die Langweile in der Entwicklung von Kindern ist – als Freiraum, der es ermöglicht, eigene Ideen zu entwickeln. Und Nietzsche hat selbstverständlich ohnehin längst gewusst, dass der, der „des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürfnisse keinen Grund zur Arbeit hat“, mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand habe, „welcher sich zum Spiel verhält wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück“.
Nun mag Langeweile in Kinderzimmern, Künstlerateliers und Schriftsteller-Hirnen die Fantasie anregen, im tristen Büroalltag mit strenger Präsenzpflicht lähmt sie eher. Das hat auch mit den Erwartungen zu tun, die man heute an seinen Beruf hat. Er ist nicht mehr nur Notwendigkeit für den Lebensunterhalt oder zur Gottgefälligkeit, sondern Berufung zur Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung. Wer die nicht spürt, kommt sich abgehängt und nutzlos vor. Man kann das kritisch als perfide Verführung des Kapitalismus zur Selbstausbeutung sehen oder einfach als ein Symptom des Fortschritts, hinter dem man die Gegenwart ungern zurücklassen würde. Schon allein, weil in der Selbstentfaltung, bei der etwa ein Grundeinkommen helfen kann, eben nicht nur Potenzial für mehr Produktivität, sondern auch ein soziales und solidarisches Versprechen steckt. Wer Sinn sucht, der findet ihn ja vielleicht vor allem auch darin, anderen zu helfen. Die alten Heere duldsam-untertäniger Angestellter möchte man jedenfalls wirklich lieber nicht mehr.