Kommentar
Mit einem Grundeinkommen könnten wir Alltag und Arbeit theoretisch freier und unabhängiger gestalten. Dafür sind aber Fähigkeiten nötig, die bisher nur selten erforderlich waren. Weder in der Schule noch später in der Arbeitswelt. Was müssen wir also können, um selbstbestimmt zu leben?
Paul Kohtes sieht genau so aus, wie man sich einen Zen-Meister vorstellt: ein kahlköpfiger, hagerer, braun gebrannter Mann, der oft etwas ironisch in sich hineinlächelt. Er ist Mitte 70, was man ihm aber keinesfalls anmerkt. Zudem arbeitet Kohtes immer noch. Er gibt Zen- und Meditationskurse, hat außerdem gemeinsam mit ein paar Studenten 2014 die Meditations-App „7Mind“ gegründet. Sie ist heute die erfolgreichste deutsche App dieser Art, Kohtes schreibt und spricht die angebotenen Meditationen. „Ich habe es rechtzeitig geschafft, mir meine Arbeit so zu gestalten, dass ich sie als vergnüglich erlebe. Ganz anders als die meisten Männer und Frauen in meinem Alter.“ Viele Menschen aus Kohtes Generation seien dankbar gewesen, mit 60 in den Vorruhestand gehen zu dürfen, und spätestens mit 65 wollten sie dann alle endlich leben, sich ein Boot kaufen, reisen. „Nur, dann kommen oft die Krankheiten dazwischen und eine gewisse innere Leere, weil sie sich jahrzehntelang für ihren Job aufgerieben haben“, sagt Kohtes. „Und wie sollte man mit 65 dann auf einmal wissen, was man für sich selbst braucht, wenn man das davor 40 Jahre beiseitegeschoben hat?“

Das ist in der Tat eine gute Frage: Woher wissen Menschen, worin sie gut sind, wie und was sie tun möchten, wenn sie auf einmal ohne Zwang und Vorgaben selbst über ihr Leben entscheiden dürfen? Oder über ihre Arbeit, denn auch die Erwerbswelt ist ja gerade im Wandel. Hierarchien werden vielerorts abgebaut, Arbeitnehmer sollen selbstverantwortlicher handeln, im Grunde werden wir zunehmend zu unseren eigenen Chefs.
Vom Marketing zur Meditation
Auch Kohtes kann sich noch an die Zeit erinnern, in der sein Job ihn zermürbte. Er ist der Mitbegründer der PR-Agentur Kohtes-Klewes, die Ende der 90er-Jahre einmal die größte PR-Agentur Europas war. Heute ist sie unter dem Namen Ketchum Pleon bekannt, amerikanische Investoren haben sie übernommen. Vor ein paar Jahren haben sie Kohtes den Beratervertrag gekündigt. Für Kohtes war das nicht weiter schlimm. „Dann haben sie mich halt rausgeschmissen“, sagt Kohtes und lächelt. Schon viele Jahre vorher hatte er sich immer mehr aus dem Geschäft zurückgezogen. Er hatte als erfolgreicher Agenturchef immer eine große Lücke gefühlt. „Ich war zerrissen zwischen meiner Rolle in der Agentur und dem Menschen, der ich eigentlich sein wollte. Privat und mit meiner Familie war ich ein ganz anderer als im Büro.“ Eigentlich wollte Kohtes in Ruhe Zeit mit seinen Kindern verbringen. Als Agenturchef spürte er aber den Druck, ständig präsent zu sein. Bis er endgültig die Reißleine zog und vor 30 Jahren begann, sich mit Zen-Meditation zu beschäftigen, nach Japan reiste und verschiedene Spielarten der Meditation ausprobierte. Heute gibt er spezielle Meditationsseminare für Führungskräfte und weiß gut, was viele Menschen im Berufsleben umtreibt, selbst wenn sie besonders qualifizierte und angesehene Berufe ausüben – oder gerade dann.
„Alle Menschen wollen sich frei entfalten können. Und sehr viele erleben eine unglaubliche Diskrepanz zwischen dem, was sie im Innern spüren, und dem, was sich davon in ihrer Arbeit wiederfindet.“
Kohtes erzählt von eindrücklichen Reaktionen, die viele Teilnehmer in seinen mehrtägigen Meditationsseminaren zeigen: „Die Leute müssen ruhig sein, in sich selbst hineinspüren und ohne Ablenkung das aushalten, was sie dort finden. Das ist für viele Menschen erst einmal schier unerträglich, weil sie es nicht gewohnt sind.“ Manche flippten regelrecht aus, einige wenige verließen das Seminar vorzeitig, manche, die blieben, kündigten danach ihren Job.
„Soll ein Grundeinkommen funktionieren, geht es nicht nur ums Geld“, sagt Kohtes. „Für eine Gesellschaft mit Grundeinkommen müssten die Menschen schon als Kinder weniger zum bloßen Funktionieren erzogen werden, sondern mehr zur Erforschung ihrer eigenen Fähigkeiten und Wünsche“, findet er. „Aktuell können das zu wenige Menschen, obwohl ich glaube, dass jeder prinzipiell die Fähigkeit dazu hat.“
Soft Skills sind nicht mehr nebensächlich
Die Professorin und Forscherin Jutta Rump kommt aus einer anderen Welt als Paul Kohtes. Sie ist Professorin für Personalmanagement an der Hochschule Ludwigshafen und ist dort außerdem Leiterin des Forschungsbereichs „Zukunft der Arbeit.“ Aber wie Kohtes glaubt auch sie an die Wichtigkeit von Fähigkeiten, die vor Jahren noch als eher nebensächliche Soft Skills durchgingen. „Lernbereitschaft, Veränderungswille, Entscheidungsfähigkeit, Fähigkeit zum übergreifenden Denken und Handeln, Selbsteinsicht und Selbstmanagement, all das wird in Zukunft wichtig sein“, glaubt Rump.
Eigenschaften, die übrigens auch in einer Gesellschaft mit Grundeinkommen, in der man seinen Lebensentwurf im Idealfall freier wählen könnte, wichtig sind. Der Grund für diese Veränderung liegt für Rump im Trend zu neuen Arbeitsformen, der sogenannten New Work. Dieses Konzept ist von Werten wie Selbstverwirklichung, Handlungsfreiheit, Selbstständigkeit und flachen Hierarchien gekennzeichnet. „Ich arbeite seit 30 Jahren in meiner Branche“, sagt Rump. „Noch nie habe ich einen solchen strukturellen Wandel erlebt wie jetzt. Zum ersten Mal versuchen Unternehmen neue Arbeitsmodelle wie Homeoffice, selbstbestimmtes Arbeiten und flache Hierarchien wirklich zu nutzen. Das birgt große Chancen.“ In den vergangenen Jahrzehnten habe sie nie ganz verstanden, warum viele Mitarbeiter in Unternehmen kaum kreativ, oft getrieben und passiv seien, sich als Opfer fühlten und nur ungern Entscheidungen träfen. „Zu Hause mit ihrer Familie und ihren Kindern können die Menschen das doch oft sehr gut.“ Kompetenzen, die sie daheim mühelos abrufen könnten, seien im Betrieb regelrecht verschüttet. Heute glaubt sie zu wissen, was der entscheidende Punkt ist: „Selbstbestimmung. In der Arbeit haben die Leute das Gefühl, sie werden nicht gefragt. Zu Hause sind sie ihr eigener Herr.“

Foto: IBE Ludwigshafen
Zwischen Freiheit und eierlegender Wollmilchsau
Allerdings wird der Anforderungskatalog für den Einzelnen in einer schnelllebigen Welt ohne Leitplanken durchaus lang sein. Nicht jeder ist gleichzeitig kreativ, kann sich gut selbst organisieren und auch noch gut verkaufen. „Eine eierlegende Wollmilchsau ist ja niemand. Deshalb muss man aufpassen, dass man mit der neuen Freiheit Menschen nicht wieder in die totale Selbstoptimierung zwingt“, sagt Rump. Sie selbst versucht in ihrem eigenen Team deshalb schon lange eine Form der Demokratisierung. Aufgaben werden nicht nach Hierarchiegrad und Zuständigkeit verteilt, sondern nach den jeweiligen Fähigkeiten und Neigungen. „Und das funktioniert wirklich toll. Ich habe an meinen Mitarbeitern Eigenschaften und Kenntnisse entdeckt, die ich vorher nie wahrgenommen hatte, was auch mich selbst entlastet hat.“ Rump gibt heute Aufgaben ab, die andere einfach besser können – ganz ohne Gesichtsverlust als Chefin. So quält sie sich nicht mit missliebigen Dingen und hat außerdem mehr Zeit für die Arbeiten, die ihr wirklich liegen.
Vielleicht schaffen es in Zukunft mehr Menschen, das zu tun, was ihnen entspricht, sodass sie wie Paul Kohtes auch im Rentenalter einfach weiterarbeiten, weil es ihnen Spaß macht. Sie würden so ihr volles Potenzial ausschöpfen. Das wäre gut für sie und für die Gesellschaft. „Bei mir sieht das vielleicht von außen spektakulär aus“, sagt Kohtes. „Aber eigentlich kann das jeder.“ Bleibt nur die Frage, was sich schneller entwickelt: die neue Arbeitswelt oder die Kompetenzen, die für sie nötig sind.