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Warum es trotz allem sehr vernünftig ist, utopisch nach vorne zu schauen.
Der alte Schwarzmaler-Gag, dass Optimismus nichts anderes sei als ein Mangel an Information, scheint zurzeit mal wieder besonders einleuchtend. Es sieht doch ziemlich düster aus mit Trump und Brexit, Rechtspopulismus und Datenmissbrauch, Ungleichheit und Klimawandel – und Besserung ist nicht in Sicht. Aber ist gerade deshalb nicht eigentlich das Gegenteil noch viel, viel einleuchtender, dass nämlich Pessimismus nichts anderes ist als ein Mangel an Vorstellungskraft und Zuversicht?
Willkommen in der Fantasie
Die Geschichte der Utopie lehrt auf jeden Fall (und nicht erst seit im Jahr 1516 der britische Humanist und Staatsmann Thomas Morus der Sache ihren Namen gab), dass schlechte Zeiten immer auch ziemlich gute Zeiten für utopisches Denken waren. Das Wort Utopie entsteht dabei aus der Kombination der beiden griechischen Worte „ou“ für „kein“ oder „nicht“ und „tópos“ für „Ort“. „Utopie“ ist also ein „Nicht-Ort“, ein Ort, der in der Wirklichkeit nirgends existiert, nur in der Fantasie.
Es ist das Urmodell einer neuzeitlichen Utopie, das als geistreicher humanistischer Scherz gelesen werden wollte und zugleich doch auch als Vision einer besseren Welt vor allem unmissverständlich auf krasse Missstände des Europas seiner Zeit verweist: ein überhartes und doch wirkungsloses Strafrecht etwa, weil die Armut vielen nichts anderes als Diebstahl übrig ließ, das Elend der verstümmelten Kriegsveteranen, die ungleiche Verteilung des Eigentums, die systematische Ausbeutung der Besitzlosen durch den selbstgerechten Adel, die rücksichtslose Machtpolitik der Könige.
Als aus Wunschträumen Albträume wurden
Die technische Entwicklung, die nicht zuletzt das Massenmorden in den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts in einem völlig neuen, zuvor unvorstellbaren Ausmaß möglich machte, bringt schließlich negative Utopien hervor, die Dystopien. In ihnen geht es dann nicht mehr um die Verheißung eines besseren Orts und einer besseren Ordnung in der Zukunft, sondern wie in Samjatins „Wir“ (1920), Huxleys „Schöne neue Welt“ (1932) oder Orwells „1984“ (1949) darum, mit Schreckensszenarien vor der Zukunft zu warnen. Aus Wunschträumen werden im 20. Jahrhundert Albträume.
Wenn Utopien ernüchtern
Zum bis heute prägenden Philosophen des utopischen Denkens wird in dieser Zeit Ernst Bloch mit seinen beiden Büchern „Geist der Utopie“ aus dem Jahr 1918 und „Das Prinzip Hoffnung“, verfasst in der Emigration zwischen 1938 und 1947. Blochs utopisches Denken ist kein unschuldiges mehr, sondern eines im Angesicht der brutalen Ernüchterung. Es gibt bei ihm keine politischen Luftschlösser, er sucht für seine Ideen Anhaltspunkte in der Welt: „Konkrete Utopie richtet die miserable Faktizität.“ Dass noch nirgends etwas gewonnen sei, heißt bei Bloch, dass es „doch freilich auch noch nirgends vereitelt“ ist. Die Menschen können „auf der Erde die Weichensteller“ sein: „Wer das Unverhoffte nicht erhofft, der wird es nicht finden.“ Ein „zaudernder Weichensteller“ darf der Utopist bei Bloch dabei dementsprechend jedoch auf keinen Fall sein.
Im Gegenteil, er müsse vielmehr wie ein Hochstapler sein, schreibt Bloch in „Spuren“, denn „kein Vorstoß ins Höhere“ gehe „ohne Selbstbehauptungen ab, die nicht oder noch nicht wahr sind“. Sogar Beethoven, der als junger Künstler „plötzlich wusste oder behauptete, ein Genie zu sein, wie es noch kein größeres gab“, betrieb da „Hochstapelei skurrilsten Stils“: „Er gebrauchte diese durch nichts gedeckte Anmaßung, um Beethoven zu werden, wie denn ohne Kühnheit, ja Frechheit solcher Vorwegnahmen nie etwas Großes zustande gekommen wäre.“
Utopie trifft auf Science Fiction
Der ewige Dialektiker Adorno merkte dagegen Anfang der 1960er Jahre in einer Radiodiskussion mit Ernst Bloch an, dass unzählige utopische Träume wie das Fernsehen, die Überschallgeschwindigkeit oder die Raumfahrt, als sie sich erfüllten, allesamt so gewirkt hätten, als sei das Beste vergessen worden. Durch die Erfüllung eines Wunsches sehe man sich doch immer auch um den eigentlichen Inhalt der Wünsche irgendwie betrogen: „Ich meine also, man kann heute fernsehen, in die Ferne sehen, aber anstatt dass nun das Wunschbild, die erotische Utopie aufgeht, sieht man bestenfalls irgendeine (…) Schlagersängerin.“
Bloch nennt das Phänomen im Gespräch verständnisvoll „Melancholie der Erfüllung“, mag sich aber auf den Mollton Adornos dennoch nicht einlassen. Es sei doch längst vielmehr so, dass „unsere Zeit“ auch eine Aufwertung des Utopischen gebracht habe. Sie heiße nur nicht mehr so, sondern zum Beispiel Science-Fiction. Vielleicht also nicht an der Utopie, aber immerhin doch mit dem Thema Utopie werde doch längst „ungeheuer nahe“ gelebt, also in dem Bewusstsein, dass es sie geben könnte, wenn man etwas dafür tue, denn nur „indem wir hinfahren, erhebt sich die Insel Utopia aus dem Meer des Möglichen“.

Foto: William Elliot/Gallery Stock
Die vollkommenere Version
Die Utopie, die hier vor mehr als 50 Jahren Bloch im Hinterkopf gehabt haben dürfte, unterscheidet sich interessanterweise gar nicht so sehr von dem, was sich heute von vielen als „utopisch“ vorgestellt wird. Im Grunde ist Utopia heute eine vollkommenere und ökologisch nachhaltigere Version 4.0 des liberal-demokratischen Wohlfahrtsstaates westlicher Prägung. Von allem Guten sollte es in diesem Staat mehr und das Schlechte am besten gar nicht mehr geben. Also mehr Gerechtigkeit, mehr Gleichheit, mehr Gesundheit, mehr Umwelt- und Tierschutz, mehr Frieden, mehr Freiheit, mehr Verständigung, mehr Liebe und kein Krieg, kein Leid, keine Ungerechtigkeit, keine Ungleichheit, keine Unterdrückung, keine Ausbeutung.
Hollywoods düsterste Dystopien
Um mehr vom Gleichen lassen sich allerdings nicht so aufregende Plots basteln, die Aufmerksamkeitsökonomie ist da ohne Gnade. Kein Zufall dürfte deshalb sein, dass die spektakulären Zukunftsvisionen der jüngsten Vergangenheit aus Hollywood, wie „Interstellar“ oder „Elysium“, düsterste Dystopien waren und mit „Black Panther“ das vorerst letzte große Blockbuster-Utopia davon lebt, dass sich ihr in Afrika gelegener geografischer Ort, das Paradies „Wakanda“, dank des Rohstoffs „Vibranium“ für den Rest der Welt unsichtbar machen kann. In „Elysium“ manifestiert sich die krasse Ungleichheit der Lebensbedingungen der Menschen darin, dass es zwei Klassen von Menschen gibt, auf der überbevölkerten und heruntergekommenen Erde lebt nur noch die riesige Unterschicht. Die winzige Oberschicht ist in den Orbit der Erde auf die luxuriöse Raumstation Elysium umgezogen, die „Insel der Seligen“. In „Interstellar“ ist die Biosphäre der Erde so zerstört, dass die Bewohner des Planeten unter extremen Staubstürmen leiden und der Nahrungsmittelanbau immer schwieriger wird, weshalb ein Raumfahrer-Team einen neuen Heimatplaneten für die Menschheit suchen soll, was natürlich misslingt.
Enttäuschte Hoffnungen
Seinen Teil zur Ernüchterung hat zuletzt auch die Tatsache beigetragen, dass zu viele Hoffnungen der digitalen Revolution enttäuscht wurden. Längst ist klar, dass die riesigen Datenmengen, über die Konzerne wie Facebook, Google und Amazon verfügen, nicht vor allem zur Befreiung der Menschheit benutzt werden, sondern in erster Linie die Maximierung von Profit und Macht eben dieser ohnehin schon unvorstellbar profitablen und mächtigen Konzerne sichern sollen. Dazu kommt, dass das alte Orwell’sche Schreckensszenario einer Totalüberwachung der Menschheit durch die Entwicklung der Technik spätestens seit den Enthüllungen Edward Snowdens über die Spionagepraktiken der amerikanischen Geheimdienste und der Implementierung des chinesischen Sozialkredit-Systems sehr, sehr konkret erscheint.
Das neue Opium
Das Schwelgen in monströsen Dystopien mag dabei aufmerksamkeitsökonomisch einleuchten, als Kick des kalten Hauchs der Katastrophe. Eigentlich ist es eher ein neues Opium des Volkes. Mit vernünftiger Gesellschaftskritik hat es nur noch sehr wenig zu tun. Denn je gigantischer man sich ein Problem imaginiert, umso logischer sind Apathie und Kapitulation. Das wäre dann die wirkliche Katastrophe. Prominente Netzkritiker wie Evgeny Morozov werden deshalb nicht müde, darauf hinzuweisen, dass nicht nur die meisten digitalen Probleme der Gegenwart immer noch keine biblischen Plagen sind, sondern einfach politische, also von Menschen gemachte und von Menschen auch wieder lösbare (oder wenigstens zähmbare).
Momo und die Utopie
Gar kein Wunder ist es so gesehen, dass der bekannteste deutsche Utopist der Gegenwart, der Soziologe und Publizist Harald Welzer, nicht nur unermüdlich über mehr Gerechtigkeit, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit und ein Grundeinkommen nachdenkt, sondern auch über das Wie schreibt, den ganz konkreten Weg zum Ziel: Sein neues Buch „Alles könnte anders sein – Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ endet etwa mit der Forderung nach lustvollen, sichtbaren Formen des Protestes wie den „1000 Gestalten“ zum Hamburger G-20- Gipfel. Tausend in Erinnerung an die seelenlosen Apparatschiks in Michael Endes Roman „Momo“ komplett grau angemalte Menschen unternahmen 2017 einen eindrucksvollen surrealen Marsch durch die Stadt und lieferten so Bilder, die den grausam unutopischen Grund des Gipfels – die Betonierung internationaler Besitzverhältnisse – effektiver und wirkmächtiger kritisierten als jede „Latschdemo“ mit Abschlusskundgebung.
Was utopisches Denken heute bedeutet
Ganz im Sinne der Erkenntnisse der modernen Evolutionsbiologie, nach denen es uns leichter fällt, andere davon zu überzeugen, dass wir besser sind, als wir eigentlich sind, wenn wir selbst daran glauben, schreibt Welzer: „Was uns also noch dringend fehlt für die Realisierung des Utopischen: mehr Sexyness, bessere Geschichten, der coolere Auftritt.“ Die Spur habe der SPD-Politiker Johannes Kahrs gelegt, als er im Bundestag die AfD-Fraktion darauf hingewiesen habe, dass Hass hässlich mache: „Denn das gilt ja womöglich auch umgekehrt: dass Freundlichkeit schön macht, dass also die neuen Utopistinnen und Utopisten die ,beautiful people‘ werden.“ Mit anderen Worten: Utopisches Denken bedeutet gerade wahrscheinlich mehr denn je, sich nicht nur eine bessere Welt ausdenken und das Bestehende als kollektive Illusion sehen zu können, sondern auch die Fähigkeit zu haben, öffentlichkeitswirksam aufführen zu können, wie vollkommen anders alles sein könnte. Ohne falsche Scheu vor der richtigen Hochstapelei zu haben.