Kommentar

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Darauf warten wir schon lange

von Judith Blage,
Foto: Shutterstock

Wer ein Grundeinkommen einführen möchte, benötigt eine staatliche Verwaltung, die Ressourcen effizient, transparent und gerecht verteilt. Die Digitalisierung könnte das ermöglichen, nur leider hinkt Deutschland beim E-Government weit hinterher.

11. Juli 2019

Wer in Estland wählen geht, muss nicht weiter als bis zum Schreibtisch laufen. In dem kleinen baltischen Land können Wähler ihre Stimme direkt zu Hause an ihrem Rechner abgeben, ganz egal, in welchem Land der steht. Denn Estland hat 99 Prozent aller öffentlichen Dienste digital verfügbar gemacht. Jeder Bürger besitzt einen elektronischen Personalausweis mit einer Nummer, die er für alles Mögliche nutzen kann: als Kennung für die Steuererklärung, für das Bankkonto, für Versicherungen oder für die Abrechnung von Bonuspunkten im Supermarkt. Behördengänge mit einer Wartenummer sind weitgehend unnötig. Wie ein Wunschtraum für uns Deutsche klingt die Abwicklung der estnischen Steuererklärungen. Rund 95 Prozent aller Esten überprüfen nur ihr vom Algorithmus vorgefertigtes Steuerformular und schicken es dann digital ab. Ein Mausklick reicht. Weil das System so einfach ist, gibt es in Estland keine Steuerberater.

Fast alle anderen EU-Länder sind bei der Digitalisierung weiter

Jährlich ermittelt die Europäische Kommission, wie gut die EU-Mitgliedsstaaten mit der Digitalisierung vorankommen: Estland liegt seit Jahren auf den ersten Plätzen, Deutschland hingegen weit abgeschlagen auf Platz 26 von 28 Mitgliedsstaaten. Fast alle Nationen Europas sind schneller und weiter im Bereich E-Government, also bei der Vereinfachung von Verwaltungsprozessen eines Staates durch digitale Möglichkeiten. Für die Esten scheint sich diese Vorreiterschaft in Sachen Digitalisierung zu lohnen: Denn nicht nur Behördengänge sind Vergangenheit, nach Berechnungen einiger Experten spart das Land dank seiner digitalen Infrastruktur auch rund zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts ein. Eine Digitalisierung der deutschen Verwaltung nach estnischem Vorbild würde sage und schreibe 60 Milliarden Euro Steuergelder weniger kosten als das aktuelle System.

„Tatsächlich wäre eine umfassende Digitalisierung der Verwaltung nicht nur effizienter und billiger, sondern gerechter, nachvollziehbarer und wahrscheinlich auch partizipativer für die meisten Menschen in Deutschland“, sagt Mario Martini. Er ist Professor für Staatsrecht und Verwaltungswissenschaft an der Universität Speyer und Mitglied der Datenethikkommission der Bundesregierung.

„Wenn wir eine Art Staats-App hätten, müsste man keine komplizierten Formulare mehr ausfüllen und verstehen“, sagt Martini, der außerdem zum Thema Digitalisierung forscht und bald ein Buch darüber veröffentlicht, wie Algorithmen sinnvoll im Staatswesen eingesetzt werden könnten. Mit einer Staats-App würde es theoretisch reichen, sein Smartphone zu fragen, was man für die Autozulassung oder die Beantragung des Elterngelds braucht. Gerade für Menschen mit wenig Bildung oder mit mangelnden Deutschkenntnissen wäre das viel einfacher als das heutige System, das einen Teil der Bevölkerung ausgrenzt, weil es so kompliziert ist. Die Kommunikation zwischen den Menschen und den Institutionen, aber auch zwischen Behörden wäre leichter. Deshalb glaubt Martini, dass eine Digitalisierung das Gesicht des Staates menschlicher machen würde, und damit partizipativer und rechtsstaatlicher, weil sie niemanden ausschließt.

Die Digitalisierung könnte politische Entscheidungen verständlicher machen

Mario Martini sieht in der Digitalisierung außerdem eine Chance für den demokratischen Rechtsstaat, mehr Transparenz herzustellen. „Der Einzelne muss nachvollziehen und sich darauf einstellen können, warum Beamte bestimmte Entscheidungen treffen.“ Das ist heute oft nicht möglich, weil die Bürger die Reichweite politischer Entscheidungen nicht zwingend verstehen, zu abstrakt und weit weg erscheinen sie ihnen.

Ein Pilotprojekt in Nordrhein-Westfalen zeigt, was die Digitalisierung hier möglich machen könnte: „Open Kommunales Government in NRW“ bündelt mit der sehr einfach gehaltenen Website „Politik bei uns“ Daten aus verschiedenen Stellen und macht so Beschlüsse der Kommunalpolitik zugänglich für Bürger. Bislang ist Kommunalpolitik für viele Menschen uninteressant, weil die Entscheidungen der Politiker undurchsichtig und unverständlich bleiben. Auf der Website können Nutzer eine Straße und eine Hausnummer eingeben und so erfahren, welche Dinge gerade verabschiedet wurden oder demnächst anstehen, die ihren Wohnort direkt betreffen. Die Daten sind simpel aufbereitet, Entscheidungsvorgänge werden erklärt. Die Landesregierung möchte mit solchen Maßnahmen die Politikverdrossenheit vieler Menschen bekämpfen.

Gähnende Leere in den Ämtern: bald Realität dank digitaler Verwaltung?
Foto: Dima Pridannikov/EyeEm

Die Digitalisierung kann unser Verständnis von Demokratie bestärken

Wie sehr die Digitalisierung die Demokratie stärken und befördern kann, zeigt außerdem Taiwan sehr gut. Die Digitalministerin Audrey Tang wird international für ihren beispiellosen Innovationswillen respektiert, auf der Digitalkonferenz Republica in Berlin 2019 hat sie ihr Modell vorgestellt. Sie setzt auf radikale Transparenz, Partizipation und Interaktion mithilfe von Open Data. Das bedeutet, Daten, die den Staat betreffen, werden der Öffentlichkeit weitgehend zugänglich gemacht. Ein Beispiel: Um überall die Auswirkungen des Klimawandels zu messen, konnten Bürger eine Messstation im Garten oder auf ihrem Balkon fixieren, deren Daten allen zur Verfügung standen. Auf einer digitalen Online-Plattform können alle Themen und Pläne des Digitalministeriums transparent eingesehen werden, die Bürger können jeden Posten im Haushalt einsehen und bei Fragen über einen Chat in Echtzeit mit dem Ministerium in Kontakt treten.

Allerdings ist die deutsche Mentalität in Bezug auf das Thema Datenschutz ganz anders als in ostasiatischen Ländern wie Taiwan oder auch als in anderen europäischen Ländern. Auch deshalb geht die Digitalisierung in Deutschland langsamer voran. „Die deutsche Mentalität hinsichtlich Datenschutz ist sehr speziell. Ich vermute, das liegt an der Erfahrung zweier Diktaturen“, sagt Martini. Viele Menschen hätten Angst davor, eine Art gläserner Bürger zu werden und dadurch Nachteile zu erleiden.

Vielleicht macht aber gerade die totale Transparenz den Datenschutz wiederum möglich: In Estland ist immer ersichtlich, wenn ein Arzt beispielsweise auf die zentral gespeicherte Patientenakte eines Bürgers zugreift. Passiert das ohne Grund oder zu häufig, wird das gemeldet, und es wird öffentlich. „Ich glaube, dass totale Offenheit Missbrauch eher vorbeugt“, betont Martini. Estland gilt als außerordentlich gut geschützt vor Hackerangriffen Mehrere Behörden und Taskforces überprüfen die Systeme 24 Stunden am Tag, das ganze Jahr hindurch. Eine Seltenheit unter europäischen Sicherheitsbehörden. Deutschland wäre aber auch mit einer Absicherung, ähnlich der estnischen, einem höheren Risiko ausgesetzt: Das Land ist größer, spielt international eine wichtigere Rolle und lockt deshalb mehr Hacker an.

Föderalisierung und pure Größe stehen der Digitalisierung im Weg

Ein zweiter Grund für die deutsche Langsamkeit ist die Tatsache, dass Deutschland das bevölkerungsreichste Land Europas und außerdem föderal organisiert ist. Die Staatsgewalt ist also zwischen den Bundesländern und dem Bund aufgeteilt. „Das macht eine vereinfachte Organisation und Bündelung der Kräfte natürlich unendlich viel komplizierter als zum Beispiel in Estland“, sagt Martini. Zum Vergleich: In Estland leben 1,3 Millionen Menschen, in Deutschland 83 Millionen. Während in Deutschland jedes einzelne Bundesland eine eigene Software zur Datenerhebung der Bürger verwendet und der Bund wiederum eine andere, gibt es in Estland nur eine einzige für alle. Trotz dieser Hemmnisse wird auch in Deutschland die Digitalisierung in Zukunft das Staatswesen und die Verwaltung radikal verändern.

Transparenz, Gerechtigkeit und Partizipation für möglichst viele. Eine digitalisierte Verwaltung, die genau diese Werte ausdrückt, wäre eine wichtige Komponente für die erfolgreiche Umsetzung eines Grundeinkommens.

Die umfassende Digitalisierung fast aller Lebensbereiche führt dazu, dass sich die Arbeits- und Lebenswelt auf eine Weise verändert, die heute niemand vollständig voraussehen kann. Aber klug und verantwortlich eingesetzt, kann sie als praktisches Werkzeug auch den Weg zu einer menschlicheren Gesellschaft ebnen. In jedem Fall sollten wir jetzt über einen sinnvollen Einsatz nachdenken, findet Martini. Und wenn wir es tun, so glaubt er, könnte in zehn Jahren eine Staats-App Realität sein. Vielleicht schon mit dem Menüpunkt Grundeinkommen.

Wir stellen uns neu auf: Neuer Name, neue Programmatik

Am 15. Februar schlagen wir ein neues Kapitel auf. Künftig verhandeln wir die Sozialsysteme der Zukunft – geleitet von unserer Vision einer fairen und zukunftsfähigen Gesellschaft, in der ein selbstbestimmtes Leben für alle zugänglich ist. Dazu geben wir uns einen neuen Namen: "Zentrum für neue Sozialpolitik"; und eine breitere Programmatik. Kommen Sie mit auf die Reise?